Wenige Tage darauf stand schon der nächste Besuch an. Ich erwachte von ungewohnten Stimmen vor meinem Fenster und sah hinaus. Scheiße! Die Bullen, durchfuhr es mich. Orientierungslos latschten sie über den Platz und suchten nach Zeichen unserer Anwesenheit. Ich weckte alle in der Turnhalle auf, schlich mich unbemerkt hinraus, gab noch im Maschinenhaus Bescheid, lief rüber zur Fabrik und wartete auf den Rest.
In der Kofferfabrik, die wir Verwaltungsgebäude nannten, trafen die sie dann noch Leute in ihren Betten an und übermittelten ihnen ein Ultimatum. Man ließ uns zwei Wochen Zeit, um zu verschwinden. Es bestehe akute Einsturzgefahr. Hektische Betriebsamkeit setzte ein. Wir schafften alles mögliche an Geraffel, insbesondere Metallschrott, zu den Eingängen und verstopften sie damit. Zwar mussten wir selber da jetzt immer rüberklettern, aber die Bullen, die nicht wissen konnten, was sie dahinter erwartete, würden das nicht so ohne weiteres tun.
Wenn wir nicht einfach nur auf die Räumung warten wollten, mussten wir an die Öffentlichkeit gehen. Ein Flugblatt wurde verfasst, indem zu Solidarität und Sachspenden aufgerufen wurde. Harry hatte noch sein WG-Zimmer und dort gab es ein Telefon. Den ganzen Vormittag über hängte er sich an die Strippe. Nachdem er die Antifa-Alarmkette ausgelöst hatte, rief er mit Hilfe des Branchenverzeichnis überall an, wo er Linke, Alternative oder sonst irgendwie kritische Menschen vermutete. Darunter Friedensgruppen, Mietervereine, Bioläden, Dritte-Welt-Läden, eine libertäre Bücherei, einen kleinen Fahrradladen und noch vieles mehr.
Kurze Zeit später flanierten hunderte von Menschen über das Gelände. Den ganzen Tag über trafen Transportfahrzeuge ein und brachten Lebensmittel, Möbel, Matratzen und Öfen vorbei. Dem folgte eine spontane Einzugswelle. Am Abend hatten wir unser erstes öffentliches Plenum, zu dem vielleicht 60 Leute erschienen.
Das Wetter war gut und es fand draußen statt.Wir berichteten davon, was sich bisher zugetragen hatte und forderten dazu auf, Ideen zu entwickeln und mitzumachen. Seien wir realistisch – fordern wir das Unmögliche!
Die hochpolitischen Autonome aus Linden ließen sich zum ersten Mal bei uns blicken. Der Grund dafür war allerdings, die Kritik die sie hatten und die sie gerne loswerden wollten. Sie fanden die ganze Besetzung unorganisiert, unpolitisch, realitätsfremd und ziellos. Eine Suppe voller Haare.
Einer echauffierte sich ganz besonders. „Ich mache seit über zehn Jahren autonome Politik“, war seine Einleitung. Im diesem nörglerischen Ton fuhr er fort. Wieso wir überhaupt das Sprengelgelände besetzt hätten ohne vorher zu fragen, wollte er gerne wissen. Anfang bis Mitte der 1980er Jahre hatte es immer wieder Hausbesetzungen in Hannover gegeben. Leider waren alle Häuser spätestens nach ein paar Wochen wieder geräumt worden. Zum Schluss war es nicht mal mehr möglich, für länger als ein paar Stunden drinzubleiben.
Schließlich hatte die autonome Linke erkannt, es war pure Kräfteverschwendung so weiter zu machen und deshalb wurde auf dem autonomen Häuserrat 1985 beschlossen, keine weiteren Häuser mehr zu besetzen. Mit der Energie, die man dadurch sparte, ließe sich sehr viel sinnvollere Politik machen. Dieser Beschluss sei nie aufgehoben worden und gelte daher noch immer.
Korrekt wäre es gewesen, so fuhr er fort, zuerst den Rat wieder zu reaktivieren. Leute, deren Erfahrungshorizont etwas weiter ginge als der unsere, die mit den politischen Verhältnissen in der Stadt vertraut waren, hätten uns darin beraten und zu einer realistischen Einschätzung verhelfen können. Zu denen zählte er sich selbst und seiner Einschätzung nach hatte das alles sowieso keinen Sinn. Es gab keine Perspektive für uns. Wir konnten doch nicht ernsthaft annehmen, wir hätten eine Chance, uns auf einem so großem Gelände zu etablieren. Spätestens in ein paar Wochen würde der ganze Zauber wieder vorbei sein.